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Die Erwartungen der zivilisierten Gesellschaft sollten einer Person jeden Schutz bieten, den sie braucht. Doch diese Rüstung wird so dünn wie ein Papiertuch, wenn man es mit dem Unzivilisierten zu tun bekommt.
Aus den Bene-Gesserit-Archiven
In die Höhle des Löwen ... des Corrino-Löwen.
Dank einiger Tricks bezüglich des Gildenprotokolls traf Jessica zur gleichen Zeit ein wie Chani und Irulan, und alle kamen bei dem neuen Gebäudekomplex zusammen, den die Corrinos im Exil errichtet hatten. Shaddams neue Stadt war eine Ansammlung miteinander verbundener Kuppeln, von denen jede abgeschirmte Gebäude enthielt, damit sich die Bewohner mit einem gewissen Maß an Phantasie vorstellen konnten, noch auf Kaitain zu sein.
Vor Ewigkeiten war Salusa Secundus die prunkvolle Hauptwelt des Imperiums gewesen, doch eine entehrte Adelsfamilie hatte dort genug Atomwaffen entfesselt, um sie völlig zu zerstören, indem sie den Planeten mit Strahlung und unkontrollierbaren Feuern überfluteten. Salusa war schon seit sehr langer Zeit tot, doch inzwischen war die Hintergrundstrahlung auf ein erträgliches Maß gesunken, und hartnäckige Lebensformen kamen in einem schwachen, neuen Frühling ans Licht. Angesichts der energischen Arbeit von Pauls Terraforming-Teams rechnete Jessica damit, dass Salusa recht bald wieder zum Leben erwachte.
Der exilierte Hof hieß die Repräsentanten des Imperators Muad'dib mit großem Trara willkommen. Als Chani und Irulan in einer von Suspensoren getragenen Barke eintrafen, die für protzige Prozessionen ausgelegt war, überlegte Jessica, wofür Shaddam hier ein solches Gefährt wohl sonst noch brauchte. Sie sah, wie sich der gestürzte Imperator zu einem Lächeln zwang. Nach all den Jahren, die er auf Kaitain geherrscht hatte, hätte er Jessicas Meinung nach eigentlich besser darin sein müssen. Sein ganzer Körper schien sich zu verkrampfen. Ihr fielen graue Streifen im rötlichen Haar des Adligen auf, und sie sah deutlich die leise brodelnde Abneigung auf seinem schmalen Gesicht. Das war keine große Überraschung, denn schließlich repräsentierte sie Paul Muad'dib, den Mann, der ihn besiegt hatte.
Jessica beobachtete Graf und Lady Fenring, die sich im Kreis der Teilnehmer an der großen Empfangsfeier hielten. Shaddams Töchter hatten sich am vorderen Ende der Gruppe versammelt. Josifa und Chalice schienen begierig darauf zu sein, ihre Schwester wiederzusehen, oder doch zumindest erfreut darüber, endlich wieder an einem Ereignis von hoheitlichem Pomp und Glanz teilzuhaben. Wensicia jedoch trug eine säuerliche Miene zur Schau, während sie die Hand ihres kleinen Jungen so fest hielt, dass er sich vor Unbehagen wand.
Die laute Kapelle spielte einen dramatisch klingenden Marsch von Kaitain und verstummte dann plötzlich. Umringt von gelb gewandeten Priestern und schneidig uniformierten Fedaykin-Wachen kamen Irulan und Chani aus der versiegelten Barke.
Chani schob ihre Kapuze zurück, um elfenhafte Züge, dunkle Haut, dunkelrotes Haar und blau-in-blaue Augen zu enthüllen. Sie trug an ein Wüstenklima angepasste Gewänder, die eher praktisch als prachtvoll waren. Neben der förmlich gekleideten Irulan wirkte Chani angespannt, wie eine Fremen-Kämpferin zwischen Menschen, die sie als Feinde kannte. Jessica wusste, dass die beiden Frauen sich nicht besonders mochten, doch nun hatten sie ein gemeinsames Ziel.
Irulan betrachtete ihre Familie mit eisigem Blick und steinerner Miene. Sie wirkte nicht übermäßig erfreut über diesen Besuch, und Jessica fiel eine ähnliche verdeckte Animosität vonseiten der Corrinos auf. Die Beziehungen waren recht komplex ...
Die Stille hielt etwas zu lange an, als wüsste niemand, wer zuerst sprechen sollte. Dann erhielt der unwahrscheinlich jung aussehende neue Kammerherr einen Stoß in die Seite und sagte die offizielle Begrüßung auf. »Shaddam Corrino IV. heißt die Repräsentanten von Imperator Muad'dib willkommen.«
Die Stimme des jungen Mannes war ein bisschen zu hoch und ein bisschen zu dünn, und sie zitterte, als würde ihn die Lautstärke seiner eigenen, technisch verstärkten Worte erschrecken. Jessica kam zu dem Schluss, dass man ihn einfach in eine Uniform gesteckt und ihm erklärt hatte, was er sagen sollte, ohne ihm eine nennenswerte Ausbildung zukommen zu lassen. Shaddams letzter offizieller Kammerherr, Beely Ridondo, war vor sechs Jahren vor Alias Augen hingerichtet worden, weil er zu viele Forderungen hinsichtlich des ökologischen Wiederaufbaus von Salusa Secundus gestellt hatte.
Dieser neue Kammerherr verbeugte sich ungelenk. »Mögen Sie dazu inspiriert werden, die Terraformingarbeit hier zu beschleunigen, im Namen Gottes.«
Jessica trat geschmeidig vor und streckte die Hände aus, um die beiden Frauen zu begrüßen. Sie nahm Chanis Hand in die Rechte und Irulans in die Linke, eine Bewegung, die sie zugleich vor den gestürzten Imperator brachte. »Mein Sohn hat mich darum gebeten, mich euch beiden hier anzuschließen, um sicherzustellen, dass unser Besuch von Erfolg gekrönt ist.«
Chani verbeugte sich, und ihre Miene zeigte ehrliche Wärme. »Danke Sayyadina. Es ist schon zu lange her, und ich bin froh, dass du hier bist.«
Irulan beschloss, sich nun an Shaddam zu wenden, und sie verneigte sich nicht. »Wir freuen uns über diesen Besuch auf deiner Heimatwelt Salusa Secundus, Vater. Bitte nimm im Gegenzug die guten Wünsche meines geliebten Ehemanns, des wahren Imperators, entgegen.«
So viele scharfe Spitzen in dieser einen Bemerkung, sowohl gegen Chani als auch gegen die Corrinos, dachte Jessica. Und Irulan wusste genau, was sie getan hatte.
Die gertenschlanke Lady Margot Fenring begleitete Jessica zu ihren Gemächern in der Kuppelstadt, im offensichtlichen Versuch, sie, Chani und Irulan voneinander getrennt zu halten. »Ich freue mich, ein wenig Zeit mit Ihnen zu verbringen, Lady Jessica. Unsere Wege kreuzen sich immer wieder, nicht wahr?«
Jessica sprach in beherrschtem Tonfall. »Sind Sie diesmal meine Verbündete oder mein Feind, Lady Fenring? In der Vergangenheit waren Sie bereits beides.« Die Frau des Grafen hatte ihr eine Geheimbotschaft im Anwesen von Arrakeen hinterlassen, in der sie Jessica vor dem Verrat durch die Harkonnens gewarnt hatte ... aber später hatte sie ihre monströse kleine Tochter Marie geschickt, um Paul zu töten.
»Diesmal bin ich einfach nur mit der Schwesternschaft assoziiert«, sagte Margot und zeigte ihr den Weg zu ihrem Zimmer. »Wir haben unsere eigenen Wege gewählt, zum Guten oder zum Schlechten.«
Sie ließ Jessica allein in ihrem Zimmer zurück, damit sie sich vor dem geplanten abendlichen Festmahl noch frisch machen konnte. Jessica betrachtete die protzige Einrichtung: die fein verästelten Schnitzereien, die goldenen Filigranarbeiten, die Fenster aus ineinandergreifenden Stücken von getöntem Plaz. Die Dekorationen wirkten hastig hergerichtet und protzig, wie der verzweifelte Versuch zu demonstrieren, dass das Haus Corrino seinen Glanz nicht völlig verloren hatte. Hier und da hing ein Kunstwerk an der Wand. Jessica ahnte, dass die Corrinos im Exil nicht genug solcher Stücke besaßen, um alle Zimmer damit auszustatten. Dann fragte sie sich, ob auch das eine sorgfältig durchdachte Fassade war, die sie in den Glauben versetzen sollte, dass der entthronte Imperator unter härteren Bedingungen lebte, als es tatsächlich der Fall war. Wollten sie, dass Jessica Paul davon berichtete?
Später lächelten Graf und Lady Fenring, als Jessica den Bankettsaal betrat. Am anderen Ende des langen Tischs saß Shaddam Corrino IV. mit seinen überlebenden Töchtern Chalice, Josifa und Wensicia. Irulan und Chani hatte man nebeneinandergesetzt – Jessica fragte sich, ob es sich um einen Versuch handelte, Spannungen zu erzeugen.
Als sie sich Shaddam zuwandte, bevor sie sich setzte, zögerte sie, als ihr bewusst wurde, dass sie noch keine Entscheidung getroffen hatte, wie sie diesen Mann anreden sollte. Shaddam verdiente nach wie vor ein gewisses Maß an Respekt, aber nicht zu viel. Sie ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. »Danke für diesen freundlichen Empfang – an Sie alle.«
Irulan wandte sich dem kleinen Jungen zu, der neben Wensicia am Tisch saß. Er war kaum älter als ein Jahr, und seine Augen waren klar und intelligent. »Ist das dein Sohn, Wensicia? Wo ist sein Vater?«
Plötzlich schien es im Raum ein paar Grad kühler zu werden. »Farad'n ist jetzt der Erbe von allem, was noch vom Haus Corrino übrig ist.«
Shaddam, der eine essigsaure Miene zeigte, blickte nach rechts, wo Graf Fenring saß. »Sein Vater ist unglücklicherweise in meinen Diensten dahingeschieden.«
Jessica bemerkte, wie für einen Sekundenbruchteil ein Ausdruck der Verärgerung über Graf Fenrings Gesicht huschte und gleich darauf verborgen wurde. Interessant. Was hatte Fenring mit dem Vater des Kindes zu tun?
Chani trank sparsam aus einem Wasserkelch. Den Wein rührte sie nicht an. »Seine Heiligkeit, der Imperator Muad'dib, hat uns hergeschickt, um sicherzustellen, dass die Terraformingaktionen mit aller gebotenen Eile umgesetzt werden, damit Salusa zu der Gartenwelt wird, die ihm vorschwebt, voller schöner und vornehmer Dinge.«
Jessica wollte das Messer in der Wunde drehen. »Paul hält immer sein Wort.«
Shaddam gab sich keine Mühe, seine finstere Miene zu verbergen, und rief nach dem ersten Gang. Offenbar wollte er diese Mahlzeit so schnell wie möglich hinter sich bringen. Jessica nahm sich einen kurzen Moment Zeit, um Shaddam einzuschätzen. Der Corrino-Patriarch sah nur, was er verloren hatte, und nicht, was ihm geblieben war. Für einen Mann, der als Bedrohung für Muad'dib sehr gut hätte exekutiert werden können, verfügte Shaddam noch immer über sehr viele Annehmlichkeiten, und doch trauerte der Mann wahrscheinlich seinem Palast auf Kaitain nach, der schon vor langer Zeit von Muad'dibs fanatischen Horden niedergebrannt worden war.
Graf Fenring sprach geschickt ein heikles Thema an. Er schaute von Chani zu Irulan, bevor sein Blick schließlich bei Jessica zur Ruhe kam. »Aaah, sagen Sie, jetzt, wo wir sieben Jahre ... davon hinter uns haben, glauben Sie wirklich, dass die Menschheit unter der Führung Ihres Sohns besser dran ist, hmmm?«
Shaddam stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Oder würden Sie sagen, dass es unter der Corrino-Herrschaft mehr Menschen gutging? Was meinst da, Irulan? Mir erscheint die Antwort offensichtlich genug.«
»Ich bin mir sicher, dass viele Planetenbevölkerungen sich dieselbe Frage stellen«, fügte Lady Fenring hinzu.
»Und wir alle wissen, wie ihre Antwort lauten muss.« Wensicia hob die Stimme und zog die Aufmerksamkeit auf sich. Auf einen tadelnden Blick ihres Vaters hin verstummte sie wieder. Um ihre peinliche Berührtheit zu überspielen, wies sie den zappelnden Farad'n zurecht.
Chani meldete sich zu Wort. »Hier im Exil debattieren Sie im Laufe endloser Abende zweifellos genau dieses Thema, aber die Antwort ist für Sie müßig. Muad'dib ist jetzt der Imperator, und die Herrschaft des Hauses Corrino ist vorbei.«
Shaddam trommelte mit den Fingern auf den Tisch und stieß einen langen, erschöpften Seufzer aus, der gekünstelt klang. »Ich hätte es kommen sehen müssen. Ich schäme mich dafür, meine Unzulänglichkeiten als Imperator zuzugeben.« Er musste seiner Kehle die Worte abringen, weil er sie sonst nicht herausgebracht hätte. Jessica konnte sich nicht erinnern, dass der Padischah-Imperator je zuvor seine Fehler eingestanden hatte. Doch sie glaubte nicht eine Sekunde lang, dass seine Bescheidenheit ehrlich gemeint war. »Doch ich habe mich meinem Volk nicht genug gewidmet, und ich habe die zunehmende Schwäche der Planeten, die mir dienten, nicht bemerkt. Sturmwolken sind aufgezogen, und ich habe die Vorzeichen nicht gesehen.«
Als sie ein winziges Lächeln der Zustimmung in Fenrings Gesicht sah, begriff Jessica, wer den gestürzten Imperator auf dieses Gespräch vorbereitet hatte.
»Meine Unzulänglichkeiten haben das Imperium vielleicht weich gemacht und eine Aufblähung der Bürokratie ermöglicht, doch was Muad'dib getan hat, verursacht der MAFEA, dem Landsraad, der Raumgilde – überhaupt allem – weit mehr Schaden. Das kann jeder Narr erkennen.«
Graf Fenring drängte sich hastig ins Gespräch, als er sah, dass Chani bereit war, aufzuspringen und nach ihrem Crysmesser zu greifen. »Ach, Myladys, vergeben Sie uns, aber mein Freund Shaddam und ich haben schon viele solcher Diskussionen geführt. Und wir finden einfach keine überzeugende Antwort auf die Frage, was Muad'dib wirklich beabsichtigt. Er scheint eine dem Chaos förderliche Kraft zu sein, angetrieben von der blinden Energie religiöser Fanatiker. Wie kann das dem Imperium letztlich helfen?«
Jessica betrachtete den ersten Gang, den man vor ihr aufgetragen hatte: glitzernde, importierte Früchte und dünne Scheiben rohen Fleisches. Sie stocherte darin herum, ohne etwas zu essen. »Ich kann nicht abstreiten, dass der Djihad eine Menge Schaden angerichtet hat, aber Paul muss viele Generationen der Vernachlässigung ausgleichen. Das ist notwendigerweise ein schmerzhafter Prozess.«
»Vernachlässigung durch die Corrinos, meinen Sie?«, fragte Shaddam mit finsterem Blick.
»Alle Großen Häuser waren schuld, nicht nur das Ihre.«
Wie eine zum Zubeißen bereite Schlange beugte Fenring sich vor und legte die Hände ineinander. »Ahhhh, hmmm, können Sie uns erklären, wie diese fortdauernden Massaker durch die Djihadis der Menschheit zugute kommen, sei es auf kurze oder auf lange Sicht? Wie viele Planeten hat Ihr Sohn inzwischen sterilisiert? Drei oder vier? Wie viele will er noch zerstören?«
»Imperator Muad'dib trifft seine schweren Entscheidungen gemäß den grausamen Notwendigkeiten seiner Herrschaft«, mischte Irulan sich ein, »und das weißt du sehr wohl, Vater. Seine Gründe sind uns nicht immer bekannt.«
Niemand am Tisch aß. Alle lauschten der Unterhaltung, selbst der junge Farad'n Corrino.
Graf Fenring zuckte mit den Schultern. »Selbst wenn, sind Sie alle weiterhin überzeugt, dass Muad'dibs Arbeit notwendig ist? Sagen Sie es uns, wir sind begierig darauf, Ihre Antwort zu hören. Wie kann die Sterilisierung von Planeten und massenhaftes Abschlachten der Menschheit in irgendeiner Weise helfen? Erklären Sie uns das doch bitte, hmmm?«
»Muad'dib sieht Dinge, die andere nicht sehen können. Sein Blick reicht weit in die Zukunft«, sagte Chani.
Die kaum angerührten Teller wurden abgeräumt, und der nächste Gang traf ein – kleine, gegrillte Nestlinge in bitterer Zitrussoße, garniert mit frischen Blütenstielen. Jessica, von der eine eindeutige Antwort erwartet wurde, griff auf eine ihrer üblichen Erwiderungen zurück, obwohl sie in ihren Ohren schon seit langem nicht mehr überzeugend klang.
»Mein Sohn erkennt, welche Abgründe uns alle erwarten. Er hat mir einmal gesagt, dass der einzige Weg, die Menschheit in die Zukunft zu führen, darin besteht, Brücken über diese Abgründe zu bauen. Ich glaube an ihn. Wenn er erkannt hat, dass fortgesetzte Gewalt nötig ist, dann vertraue ich ihm bedingungslos.«
Wensicia gab einen sarkastischen Laut von sich. »Sie klingt selbst wie einer dieser Fanatiker. Alle drei klingen so.« Ihr giftiger Blick war auf Irulan gerichtet, die sie ignorierte.
Shaddam stieß ein unhöfliches Schnauben aus, bevor er sich fing, sich mit der Serviette über den Mund wischte und vorgab, dass das Geräusch nur ein unschönes Rülpsen gewesen war. »Paul Atreides deutet an, dass er gute Gründe hat, aber er enthüllt sie nicht? Sie sollten alle eins wissen: Ein Mann auf dem Thron des Imperiums kann alles sagen, was er will, und davon ausgehen, dass man ihm glaubt. Das ist es, was Anhänger tun. Sie glauben. Das weiß ich – ich habe diesen Umstand selbst viele Male ausgenutzt.«